Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren
czde
Archiv

100. Geburtstag von Ludvík Aškenázy

24.02.2021


Der lebendige Weihnachtsbaum

Es war ein frostiger Tag, und ein durchgefrorener Vater suchte einen Weihnachtsbaum.
Aber im Wald war nichts mehr zu finden. Jetzt stand er da im Frost ohne Weihnachtsbaum.
Da kam ein Hirsch auf ihn zu und sagte mit Menschenstimme:
"Ich weiß, du suchst einen Weihnachtsbaum, und ich will schon immer einer werden. Schau, mein Geweih. Es ist mit Moos überwachsen, es glitzert und riecht nach Tannennadeln."
Und es roch wirklich nach Tannennadeln.
"Komm doch mit", sagte der Vater. "Aber du darfst nichts verraten."
"Ist doch klar", sagte der Hirsch. "Nur möchte ich, daß der Stern auf der Spitze ganz golden ist, und viele farbige Kugeln möchte ich auch."
"Kann ich auf dir auch Kerzen anzünden?" fragte der Vater.
"Ja", sagte der Hirsch. "Aber bitte vorsichtig mit Engelshaar."
So nahm der Vater den Hirsch mit nach Hause und schmückte ihn ganz geheim, aber geschmackvoll.
"Röhren darfst du nicht", sagte der Vater.
"Als Weihnachtsbaum mußt du die Schnauze halten."
„Welcher Weihnachtsbaum röhrt schon?" fragte der Hirsch entrüstet.
Die Kinder waren begeistert und riefen:
"Also so ein Weihnachtsbaum! Der ist ja einmalig!"
"Der ist wirklich einmalig", sagte der Vater und zwinkerte zum Hirsch. Der Hirsch zwinkerte zurück.
Später am Abend hörte man auf einmal vor dem Fenster ein leises Röhren. Da wurde der Weihnachtsbaum unruhig, und dann röhrte er auch.
Die Kinder sagten:
"Papi, der Weihnachtsbaum röhrt."
"Was einem heutezutage als Weihnachtsbaum verkauft wird" sagte der Vater. "Unglaublich."
Da sagte der Weihnachtsbaum:
"Entschuldige bitte, aber mein bester Freund ist da."
Und er röhrte ganz wehmütig.
Dann ging er hinaus in die weiße Sternennacht. Die Kinder liefen ihm nach, weil ihnen der Weihnachtsbaum so gefiel.
Und der Weihnachtsbaum sagte:" Kommt mit in den Wald, wo die Tiere feiern. Die brauchen auch einen Weihnachtsbaum."
Und die Kinder gingen hinter den beiden Hirschen her bis zur Lichtung.
Da waren viele Tiere versammelt, die sich über den Weihnachtsbaum freuten.
Der Weihnachtsbaum röhrte ein Lied, und die Tiere summten mit.
Und als Bescherung bekam jedes Tier eine goldene Nuß vom Weihnachtsbaum und einen Zimtstern. Und das Licht auf der Lichtung war bläulich.

Aus dem Buch von Ludvík Aškenázy: Du bist einmalig. Köln Middelhauve Verlag, 1981.

Mit freundlicher Genehmigung der Agentur Aura-Pont.  

site design © 2008-2024  ||  drobas.info